Wydanie/Ausgabe 131/04.04.2024

Historiker verwerfen die These, Deutschland allein habe Schuld am "Großen Krieg". Das sollten auch jene wahrnehmen, die mit dem deutschen Kriegsstreben die Abschaffung des Nationalstaats begründen. Von Dominik Geppert, Sönke Neitzel, Cora Stephan und Thomas Weber.

 Deutschland tut sich schwer mit dem öffentlichen Gedenken an den Beginn des Ersten Weltkriegs, der sich 2014 zum hundertsten Mal jährt. Das liegt nicht nur daran, dass hierzulande die Katastrophe des Zweiten Weltkriegs alles andere in den Schatten stellt.

Es hat auch mit der seit den Sechzigerjahren unter deutschen Politikern, in Schulen und Redaktionsstuben verbreiteten Weltsicht zu tun, Deutschland habe nicht nur den zweiten, sondern auch den ersten der beiden Weltkriege angezettelt.

 Bei manchen unserer europäischen Nachbarn verdichtet sich das heute zu dem Diktum, mit seiner Euro-Politik drohe Deutschland den Kontinent ein drittes Mal zu ruinieren.

 Das ist nicht nur historisch falsch, es ist auch politisch gefährlich. Neuere historische Forschungen zu Ursachen und Verlauf des Krieges widersprechen der Vorstellung, wonach das Deutsche Reich durch sein Weltmachtstreben Großbritannien provoziert habe und in seiner Machtgier mit vereinten Kräften gestoppt werden musste.

 Falsche Prämissen

 Diese Sicht aber liegt jenem Europakonzept zugrunde, demzufolge Deutschland supranational "eingebunden" werden müsse, damit es nicht erneut Unheil stifte. Die Vorstellung von der friedensstiftenden Wirkung der europäischen Einigung, insofern sie das Nationale überwindet, wie sie besonders in Deutschland verbreitet ist, beruht jedoch meiner Meinung nach auf falschen Prämissen.

 Wir glauben, dass es in der besten liberalen Tradition unserer westlichen Partner steht, den falschen Gegensatz Europa vs. Nationalstaatlichkeit zu überwinden.

 Längst hat sich in der Geschichtswissenschaft ein Paradigmenwechsel vollzogen, den neuerdings Christopher Clark ("Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog") und Herfried Münkler ("Der Große Krieg. Die Welt 1914–1918") zusammengefasst haben. Zahlreiche Detailstudien lassen schon seit einigen Jahren die Großmächtebeziehungen vor 1914 in anderem Licht erscheinen.

 Stefan Schmidt über Frankreich, Andreas Rose über England, Sean McMeekin über Russland, Günther Kronenbitter über Österreich-Ungarn und Konrad Canis über das Deutsche Reich – sie alle haben überkommene Sichtweisen auf die Julikrise und den Beginn des Ersten Weltkriegs revidiert und ein vielschichtigeres Bild an deren Stelle gesetzt.

 Deutschland nicht Ursache allen Übels

 Fritz Fischers These vom zielstrebigen deutschen Griff nach der Weltmacht hat sich als überspitzt und einseitig erwiesen. Von einem "deutschen Sonderweg" kann heute ebenso wenig mehr die Rede sein wie vom "preußischen Militarismus" als Ursache allen Übels.

 

Die lange Zeit gängige Deutung der Außenpolitik des Deutschen Reiches als Inbegriff diplomatischer Grobschlächtigkeit, deplazierter Krafthuberei, aggressiven Expansionsstrebens und permanenten Versagens ist längst relativiert. Historiker blicken nicht mehr nur nach Berlin, um die Ursachen des großen Krieges zu erklären, sondern verstärkt auch wieder nach Paris und Wien, nach St. Petersburg und London.

 

Die Schuldfrage, in deutscher Selbstbezogenheit lange Zeit der zentrale Begriff, ob als Skandalon oder als Selbstbezichtigung, spielt dabei keine entscheidende Rolle mehr.

 

Das Deutsche Reich war nicht "schuld" am Ersten Weltkrieg. Eine derartige Kategorie gab es bis dahin gar nicht, hatten doch dem Codex der europäischen Staatenkriege gemäß souveräne Staaten das "ius ad bellum", sofern sie eine Verletzung ihrer Interessen begründen konnten.

 

Großbritannien griff ohne Bündniszwang in Konflikt ein

 

Dieses Recht zum Krieg galt 1914 am wenigsten für Großbritannien, denn das Vereinigte Königreich konnte mit keinem unmittelbaren Interesse oder Bündniszwang ein Eingreifen in einen lokalen Konflikt (zwischen Österreich-Ungarn und Serbien) begründen. Erst der britische Kriegseintritt aber machte aus dem Ursprungskonflikt ein globales Desaster.

 

Worum nun ging es in diesem Krieg? Um Demokratie und Freiheit, um "Zivilisation" gegen "Kultur", um einen Kampf der Werte und Ideologien, wie die Propagandisten bald verkündeten? Viele der in den Massenheeren aufmarschierenden Männer waren durchaus bereit, ihre Heimat zu verteidigen, konnten aber mit dem Krieg der Ideen nicht viel anfangen.

 

Die propagandistische Verzerrung des Gegners zur blutrünstigen Bestie widerstrebte ihnen. Im Kriegserlebnis entstand oftmals eine Gemeinsamkeit über die Schützengräben hinweg.

 

Auch der völkerrechtswidrige Durchmarsch durch Belgien mit den ihn begleitenden Grausamkeiten machte das wilhelminische Deutschland nicht zum Oberschurken und "Barbaren". In den englischen und französischen Kriegsstrategien war Belgien ebenso wenig tabu gewesen. Die Verletzung der Souveränität Belgiens war nicht der Grund, sondern der willkommene Vorwand für das britische Eingreifen.

 

Politische Führer wollten den Krieg

 

Sind also alle geradezu schlafwandlerisch in die Katastrophe hineingeschlittert? Das auch wieder nicht. Die politischen Führungseliten hatten durchaus Interessen an einem militärischen Konflikt, die sich nicht aus hohen moralischen Standards, sondern aus handfester Machtpolitik speisten.

 

So kämpfte Russland nicht in erster Linie für das Selbstbestimmungsrecht der slawischen Brudervölker, sondern für eigene expansive Ziele in Osteuropa und am Bosporus. Frankreich war nicht passives Opfer deutscher Aggression, sondern durchaus selbst zu einem Waffengang bereit, sofern es Russland und möglichst auch England an seiner Seite wusste.

 

Englands außenpolitische Elite um Sir Edward Grey erscheint im Lichte neuerer Forschungen weniger friedfertig und auf Ausgleich bedacht als vielfach angenommen. Österreich-Ungarn war nicht das willenlose Objekt sinistrer Kriegstreiber in Berlin.

 

Die deutsche Führung schließlich verfolgte, getrieben von Abstiegsängsten und Einkreisungssorgen, das defensive Ziel, jene prekäre Situation einer begrenzten Hegemonie auf dem europäischen Kontinent wieder zu errichten, die das Reich unter Bismarck besessen hatte, weit entfernt davon, übermütig und größenwahnsinnig nach der Weltmacht zu greifen.

 

Schulddebatte klingt wie Propaganda

 

Aus der Distanz von nunmehr fast hundert Jahren erscheint die Schulddebatte ein wenig wie die Fortführung jener kriegsüblichen Propaganda, der das Deutsche Reich damals kaum etwas entgegenzusetzen wusste, das sich in der Rolle des "Barbaren", der belgische Frauen und Kinder schändete, vorgeführt sah.

 

Der Erste Weltkrieg ist der Beginn vieler Schrecken, einer von ihnen ist die Moralisierung des Krieges. Dass man diesen Krieg habe führen müssen, um jeglichem Krieg ein Ende zu machen oder, wie der amerikanische Präsident Wilson proklamierte, die Welt sicher für die Demokratie zu machen, dass es sich also im Krieg gegen das Deutsche Reich um einen "gerechten Krieg" gehandelt habe, erweist sich heute als der Versuch, ein Massenschlachten, das mindestens elf Millionen Soldaten das Leben kostete, zu rechtfertigen – also als Sinngebung des Sinnlosen.

 

In Wirklichkeit beseitigten der große Krieg und der Friedensschluss, der ihm folgte, kein einziges Problem. Sie hinterließen im Gegenteil viele neue Konflikte, die uns, etwa im Nahen Osten, noch heute beschäftigen.

 

Der enorme Erfolg des Buchs von Christopher Clark ist ein Hinweis darauf, dass die zeitliche Distanz ein neues, weniger von Emotionen und Ideologien genährtes Interesse ermöglicht. Die Gründe hierfür sind vielfältig. Das Ende des Kalten Krieges hat den Blickwinkel ebenso verändert wie das Heraufziehen eines stärker multipolar ausgerichteten und global dimensionierten Staatensystems mit unverkennbaren strukturellen Ähnlichkeiten zur Welt vor 1914.

 

Welt ist komplizierter und gefährlicher geworden

 

Das Gut-gegen-Böse-Schema des Ost-West-Konflikts gilt nicht mehr. Die Welt ist komplizierter und konfliktträchtiger geworden, wie wir nicht zuletzt im Bürgerkrieg in Jugoslawien in den 90er-Jahren gesehen haben.

 

Uns scheint, dass diese Veränderung in Politik und Öffentlichkeit noch nicht angekommen ist. Sie fordert aber mehr denn je die realpolitische, nicht die moralische Antwort auf das Weltgeschehen. Die multipolare Welt von heute mag an 1914 erinnern. Die Analyse der Julikrise aber lehrt uns, dass es heute wie damals keine zwingende Notwendigkeit für eine globale Katastrophe gibt.

 

Die neuen historischen Erkenntnisse gefallen einigen nicht, weil sie im Widerspruch zu lieb gewonnenen Selbst- und Feindbildern stehen. In England und Frankreich würden viele gern an der Schwarz-Wei゚-Version eines "gerechten Krieges" festhalten, in dem Liberalismus gegen Militarismus, Demokratie gegen Autokratie und nationale Selbstbestimmung gegen Fremdherrschaft standen.

 

Umgekehrt haben wir uns in Deutschland einen negativen Exzeptionalismus angewöhnt: das Gefühl, heute besonders gut dazustehen, weil wir in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts besonders schlecht gewesen seien. Manch einem behagen daher die Deutungen der Julikrise nicht, die zwar den deutschen Beitrag nicht leugnen, ihn jedoch in angemessene Proportionen setzen. Schuldstolz aber steht uns genauso wenig zu wie ein triumphierender Freispruch.

 

Historische Fiktionen sind fatal für Europa

 

Die deutsche Selbstbezogenheit ist kontraproduktiv. Denn vor allem macht die gegenwärtige Krise klar, dass ein Europa scheitert, das auf historischen Fiktionen beruht. Falsche Lehren aus der Vergangenheit könnten sich als fatal für das europäische Projekt erweisen.

 

Pazifismus und die Überwindung des Nationalstaates sind nicht die einzig denkbaren Schlussfolgerungen aus den Weltkriegen. Denn weder sind die alten Ängste vor deutscher Hegemonie verschwunden, noch hat die Moralisierung außenpolitischen Handelns seit 1990 zu einer größeren Integration der Bundesrepublik in die europäische Staatengemeinschaft geführt. Im Gegenteil: Einen Menschenrechtsinterventionismus, der sich nicht an nationale Interessen bindet, versteht au゚erhalb Deutschlands kein Mensch.

 

Auch will keiner unserer Nachbarn in einem übernationalen großen Ganzen aufgehen, solche Pläne nähren vielmehr die Angst vor alten Machtansprüchen. Die Idee, dass wir mit "Europa" den Nationalismus bekämpfen müssten, der angeblich die Triebfeder des Dreißigjährigen Krieges des 20. Jahrhunderts gewesen sei, hat den Nationalstaat zu Unrecht diskreditiert.

 

"EU oder Krieg" ist die falsche Alternative und lässt sich auch nicht aus der Geschichte der Weltkriege ableiten. Ein abgeklärter Blick auf die Vergangenheit tut not. Er würde uns zu einem unaufgeregteren Selbstbild unserer Rolle in Europa und der Welt verhelfen. Und das wäre ein wirklicher Fortschritt.

 

Drei Historiker debattieren 1914 1/3

Foto: University of Aberdeen

Thomas Weber ist Professor für Geschichte und Internationale Beziehungen an der Universität Aberdeen und forscht derzeit in Harvard. Zuletzt erschien von ihm "Hitlers erster Krieg: Der Gefreite Hitler im Weltkrieg – Mythos und Wahrheit" (List-Verlag): "Die Deutschen wissen es nicht – aber in ihrem Blick auf den Ersten Weltkrieg sind sie Goebbels späte Opfer. Der Glaube, Hitler und das deutsche Volk hätten sich in den Schützengräben des Ersten Weltkriegs vereinigt, hindert die Deutschen daran, ihre eigenen Toten zu betrauern. So ziehen wir aus dem Krieg die falschen politischen Schlüsse für Gegenwart und Zukunft." Webers Beitrag erscheint am 6. Januar 2014 auf "welt.de"